Sensibilität für Ungerechtigkeit

Individuelle Unterschiede im Gerechtigkeitserleben

Mitte der 60er Jahre etablierte sich die Gerechtigkeitspsychologie als eigenständiger Teilbereich der Sozialpsychologie. Kennzeichnend für das frühe Entwicklungsstadium der Gerechtigkeitspsychologie war ihre allgemeinpsychologische Ausrichtung. Entsprechend bediente sich die Forschung fast ausschließlich des Experiments als Erkenntnismethode. Beträchtliche Residualvarianzen in gerechtigkeitspsychologischen Experimenten begannen Mitte der 80er Jahre die Frage nach persönlichkeitspsychologischen Bedingungen des Gerechtigkeitsverhaltens aufzuwerfen. So wurde die allgemeinpsychologisch formulierte Gerechtigkeitsmotivtheorie von Melvin Lerner durch die Einführung des Glaubens an eine gerechte Welt als Persönlichkeitseigenschaft differentiellpsychologisch erweitert. Ähnlich trugen Einstellungskonstrukte zur persönlichkeitspsychologischen Ergänzung von Theorien der Verteilungsgerechtigkeit und der Verfahrensgerechtigkeit bei. Schließlich wird seit Mitte der 90er Jahre von mehreren Arbeitsgruppen die Idee verfolgt, dass Menschen sich in ihrer chronischen Sensibilität für Ungerechtigkeit konsistent und stabil voneinander unterscheiden (Schmitt, 1996).

Ungerechtigkeitssensibilität aus der Opferperspektive

Schmitt, Neumann und Montada (1995) entwickelten mittels der Facettentechnik einen Fragebogen, um die Sensibilität für widerfahrene Ungerechtigkeit anhand von vier Indikatoren zu messen: (1) Häufigkeit erinnerter Ungerechtigkeitserlebnisse, (2) Intensität der Ärgerreaktion auf eine widerfahrene Ungerechtigkeit, (3) Perseveranz (Penetranz, Rumination) des Ungerechtigkeitserlebens, (4) Extrapunitivität (Bestrafungs- und Vergeltungswünsche). Die konvergente und diskriminante Konstruktvalidität dieser Indikatoren wurde mittels Strukturgleichungsanalysen untersucht.

Schmitt und Mohiyeddini (1996) konnten in einer Längsschnittuntersuchung zeigen, dass sich theoretisch zu erwartende Reaktionen auf eine natürliche Benachteiligung aus der individuellen Ungerechtigkeitssensibilität vorhersagen lassen. Untersucht wurden Studierende, die an der Verlosung begehrter, aber begrenzter Seminarplätze teilgenommen hatten. Einige Wochen nach der Verlosung wurden Urteile über die Fairness des Vergabeverfahrens erhoben, der retrospektiv Ärger über das Ergebnis, die Wirkung des Verfahrens auf die Studienmotivation sowie die Unterstützung einer Initiative, das Vergabeverfahren zu optimieren. Insgesamt ließen sich diese Variablen mit der Ungerechtigkeitssensibilität, die mehrere Wochen vor der Verlosung erhoben worden war, besser vorhersagen als mit Persönlichkeitseigenschaften wie Trait-Anger, Anger-Out und Selbstsicherheit, die theoretisch zu den gleichen Reaktionen disponieren.

Mohiyeddini und Schmitt (1997) konnten in einer weiteren Untersuchung Reaktionen auf eine unfaire Behandlung im Labor mittels Ungerechtigkeitssensibilität vorhersagen. Die Probanden nahmen an einem als Leistungsexperiment getarnten Versuch teil. Sie wurden ungerecht behandelt, beispielsweise indem sie schlechtere Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt bekamen als ihre Konkurrenten. Infolgedessen konnten sie weniger Leistung erbringen und bekamen weniger Geld. Die Kommentare der Probanden während des Vorgangs wurden auf Tonband aufgezeichnet und ebenso wie Protokolle des Versuchsleiters von drei Experten nach dem Ausmaß der Empörung, des Ungerechtigkeitsempfindens und des Protestes eingeschätzt. Außerdem wurden bei den Probanden am Ende des Experiments ein Gerechtigkeitsurteil, der Zustandsärger sowie die positive Stimmung erhoben. Ferner wurde den Probanden vier Wochen nach diesem Termin eine verdeckte Gelegenheit gegeben, über die Fairness des Experiments zu urteilen und ihren Unmut zu äußern. Die genannten Indikatoren von Empörung und Protest ließen sich aus der einige Wochen vor der ungerechten Behandlung gemessenen Ungerechtigkeitssensibilität besser vorhersagen als aus anderen theoretisch affinen Persönlichkeitsvariablen.

Schmitt und Dörfel (1999) erhoben in einer Feldstudie mit Werkern eines Automobilkonzerns Einschätzungen der Verfahrensgerechtigkeit am Arbeitsplatz. Gemessen wurden außerdem die Arbeitszufriedenheit, die Anzahl der Fehltage wegen Krankheit und die Anzahl von Tagen, an denen man trotz schlechten Befindens zur Arbeit gekommen war. Diese Kriterien ließen sich aus der wahrgenommenen Verfahrensgerechtigkeit vorhersagen. Übereinstimmend mit der zentralen Untersuchungshypothese wurde dieser Effekt von der Ungerechtigkeitssensibilität moderiert. Je ungerechtigkeitssensibler die Person, desto stärker litt ihr Wohlbefinden unter Verfahrensungerechtigkeiten.

Die wahrgenommene Gerechtigkeit eines Verlusts hat Folgen für dessen Bewältigung. Zu den besonders schmerzlichen Verlusten gehört für viele Menschen der Verlust des Arbeitsplatzes. Wird für diesen keine Rechtfertigung anerkannt, kommt es zu feindseligen Reaktionen der Gekündigten gegenüber dem früheren Arbeitgeber. Ungerechtigkeitssensibilität spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. In einer Studie an betriebsbedingt Gekündigten fanden Schmitt, Rebele, Bennecke und Förster (2008) einen Zusammenhang zwischen Ungerechtigkeitssensibilität und der wahrgenommenen Fairness des Kündigungsprozesses. Diese wiederum korrelierte wie erwartet mit Rachegelüsten der Gekündigten dem früheren Arbeitgeber gegenüber.

Ungerechtigkeitssensibilität aus der Perspektive des Nutznießers

Vor Beginn der Arbeiten zur Ungerechtigkeitssensibilität aus der Opferperspektive waren in der Trierer Arbeitsgruppe „Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral“ Untersuchungen zur relativen Privilegierung und zum Phänomen der existentiellen Schuld durchgeführt worden (Montada, Dalbert, Reichle & Schmitt, 1986; Montada, Schmitt & Dalbert, 1986; Montada & Schneider, 1989; Montada, Schneider & Reichle, 1988; Schmitt, Behner, Montada, Müller & Müller-Fohrbrodt, 2000), deren Ergebnisse sich aus heutiger Sicht als Nachweis der Existenz einer Sensibilität für Ungerechtigkeit aus der Perspektive des Begünstigten oder Nutznießers einer subjektiv ungerechten Verteilung begehrter Ressourcen interpretieren lassen und damit die Perspektive des Opfers oder Benachteiligten um die Perspektive des Bevorzugten ergänzen.

In diesen Untersuchungen wurde die These geprüft, dass Schuldgefühle nicht nur wegen unrechter Handlungen entstehen, sondern auch wegen ungerechtfertigter Vorteile, die sich ohne eigenes Zutun ergeben haben, also aus einer existentiellen Besserstellung resultieren. Zur Prüfung dieser These wurden realistische Szenarien der ungünstigen Lebensumstände von benachteiligten Gruppen (z.B. Menschen in der Dritten Welt) entwickelt, um relativ privilegierten Personen ihre Besserstellung vor Augen zu führen und einen subjektiven Rechtfertigungsnotstand zu erzeugen. Die Probanden wurden um Kausalattributionen der eigenen Lebensumstände und jener der Benachteiligten gebeten. Ferner sollten sie ihre emotionale Befindlichkeit angesichts der offensichtlichen sozialen Ungleichheit vornehmen und angeben, ob sie zu Verzichtsleistungen oder Hilfen an die Adresse der Benachteiligten bereit wären. Im gegenwärtigen Kontext ist vor allem der Befund von Interesse, dass sich ein Syndrom aus Attributionen, Emotionen und Handlungsbereitschaften identifizieren ließ, welches man als Indikator einer Sensibilität für ungerechte eigene Vorteile interpretieren kann. Es umfasst externale Erklärungen für die eigenen Lebensumstände und jene der anderen, die Bewertung der Unterschiede zwischen den guten eigenen Lebensumständen und den schlechten Lebensbedingungen der anderen als ungerecht und die Neigung zu Schuldgefühlen angesichts dieser ungerechten Diskrepanz.

Dieses Syndrom erfüllt die Kriterien persönlichkeitspsychologischer Eigenschaftskonstrukte insofern, als die Indikatoren über so unterschiedliche Vergleichsgruppen von Benachteiligten generalisierten wie Menschen in der Dritten Welt, Arbeitslose, Gastarbeiter und Behinderte. Außerdem erwies sich ein Aggregat der Einzelindikatoren als stabil über einen längeren Zeitraum, wobei die Höhe der Stabilitätskoeffizienten jene traditioneller Persönlichkeitsmaße erreichte.

Ungerechtigkeitssensibilität aus der Beobachterperspektive

Während bisherige Arbeiten einen ersten Einblick in die psychologischen Bedingungen, Korrelate und Wirkungen der Ungerechtigkeitssensibilität aus den beiden Perspektiven Benachteiligter/Geschädigter und Begünstigter gewähren, ist über zwei weitere Perspektiven, die des neutralen Beobachters und die eines aktiven Täters, noch wenig bekannt. Die größte theoretische Nähe zur Ungerechtigkeitssensibilität aus der Beobachterperspektive weisen die Arbeiten zum moralischen Urteilsniveau in der Tradition Piagets und Kohlbergs auf. Ungerechtigkeit spielt in beiden Theorien eine zentrale Rolle, und die Sensibilität für Ungerechtigkeiten, die anderen widerfahren, wird als Kernkriterium einer im entwicklungspsychologischen Sinn fortgeschrittenen Moral angesehen. Die Unterscheidung der Perspektiven des Nutznießers und des Täters erscheint insofern wichtig, als Nutznießer von einer Ungerechtigkeit passiv profitieren, eine solche aber nicht aktiv herbeiführen. Täter hingegen profitieren nicht nur passiv von einer Ungerechtigkeit, die Dritte begangen haben. Vielmehr verschaffen sich aktiv Vorteile auf Kosten anderer.

Messinstrumente für die vier Facetten (Perspektiven) der Ungerechtigkeitssensibilität

Aufbauend auf den Arbeiten von Schmitt, Neumann und Montada (1995, siehe oben) entwickelten Schmitt, Maes und Schmal (1995) drei kurze Skalen à 10 Items für Opfersensibilität, Beobachtersensibilität und Nutznießersensibilität. Kürzlich wurden diese drei Skalen um eine Skala zur Messung der Tätersensibilität ergänzt.

Opfersensibilität

Menschen reagieren in unfairen Situationen sehr unterschiedlich. Wie ist es bei Ihnen? Zunächst geht es um Situationen, die zum Vorteil anderer und zu Ihrem Nachteil ausgehen.

 

 

trifft

überhaupt  nicht

zu

trifft

voll und ganz

zu

 

 

 

    1  

Es macht mir zu schaffen, wenn andere etwas bekom­men, was eigentlich mir zu­steht.

0

1

2

3

4

5

    2  

Es ärgert mich, wenn an­dere eine Anerkennung be­kommen, die ich verdient habe.

0

1

2

3

4

5

    3  

Ich kann es schlecht ertra­gen, wenn andere einseitig von mir profitieren.

0

1

2

3

4

5

    4  

Wenn ich Nachlässigkeiten anderer ausbügeln muss, kann ich das lange Zeit nicht vergessen.

0

1

2

3

4

5

    5  

Es bedrückt mich, wenn ich weniger Möglichkeiten be­komme als andere, meine Fähigkeiten zu entfalten.

0

1

2

3

4

5

    6  

Es ärgert mich, wenn es anderen unverdient besser geht als mir.

0

1

2

3

4

5

    7  

Es macht mir zu schaffen, wenn ich mich für Dinge ab­rackern muss, die anderen in den Schoß fallen.

0

1

2

3

4

5

    8  

Wenn andere ohne Grund freundlicher behandelt werden als ich, geht mir das lange durch den Kopf.

0

1

2

3

4

5

    9  

Es belastet mich, wenn ich für Dinge kritisiert werde, über die man bei anderen hinwegsieht.

0

1

2

3

4

5

 10  

Es ärgert mich, wenn ich schlechter behandelt werde als andere.

0

1

2

3

4

5

 

Beobachtersensibilität

Nun geht es um Situationen, in denen Sie mitbekommen oder erfahren, dass jemand anderes unfair behandelt, benachteiligt oder ausgenutzt wird.

 

 

trifft

überhaupt  nicht

zu

trifft

voll und ganz

zu

 

 

 

 11  

Es macht mir zu schaffen, wenn jemand nicht das be­kommt, was ihm eigentlich zusteht.

0

1

2

3

4

5

 12  

Ich bin empört, wenn je­mand eine Anerkennung nicht bekommt, die er/sie ver­dient hat.

0

1

2

3

4

5

 13  

Ich kann es schlecht ertra­gen, wenn jemand einseitig von anderen profitiert.

0

1

2

3

4

5

 14  

Wenn jemand die Nachläs­sigkeiten anderer ausbü­geln muss, kann ich das lange Zeit nicht vergessen.

0

1

2

3

4

5

 15  

Es bedrückt mich, wenn je­mand weniger Möglichkei­ten bekommt als andere, seine Fähigkeiten zu entfal­ten.

0

1

2

3

4

5

 16  

Ich bin empört, wenn es jemandem unverdient schlech­ter geht als anderen.

0

1

2

3

4

5

 17  

Es macht mir zu schaffen, wenn sich jemand für Din­ge abrackern muss, die an­deren in den Schoß fal­len.

0

1

2

3

4

5

 18  

Wenn jemand ohne Grund freundlicher behandelt wird als andere, geht mir das lange durch den Kopf.

0

1

2

3

4

5

 19  

Es belastet mich, wenn je­mand für Dinge kritisiert wird, über die man bei an­deren hinwegsieht.

0

1

2

3

4

5

 20  

Ich bin empört, wenn je­mand schlechter behandelt wird als andere.

0

1

2

3

4

5

 

Nutznießersensibilität

Nun geht es um Situationen, die zu Ihren Gunsten und zum Nachteil anderer ausgehen.

 

 

trifft

überhaupt  nicht

zu

trifft

voll und ganz

zu

 

 

 

 21  

Es macht mir zu schaffen, wenn ich etwas bekomme, was eigentlich anderen zu­steht.

0

1

2

3

4

5

 22  

Ich habe ein schlechtes Ge­wissen, wenn ich eine An­er­kennung be­kom­me, die andere verdient haben.

0

1

2

3

4

5

 23  

Ich kann es schlecht ertra­gen, wenn ich einseitig von anderen profitiere.

0

1

2

3

4

5

 24  

Wenn andere meine Nach­lässigkeiten ausbügeln müs­sen, kann ich das lange Zeit nicht vergessen.

0

1

2

3

4

5

 25  

Es bedrückt mich, wenn ich mehr Möglich­keiten be­kom­me als andere, meine Fähigkeiten zu entfalten.

0

1

2

3

4

5

 26  

Ich habe Schuldgefühle, wenn es mir unver­dient besser geht als anderen.

0

1

2

3

4

5

 27  

Es macht mir zu schaffen, wenn mir Dinge in den Schoß fallen, für die andere sich abrackern müssen.

0

1

2

3

4

5

 28  

Wenn ich ohne Grund freundlicher behandelt werde als andere, geht mir das lange durch den Kopf.

0

1

2

3

4

5

 29  

Es belastet mich, wenn man bei mir über Dinge hinwegsieht, für die andere kritisiert werden.

0

1

2

3

4

5

 30  

Ich habe Schuldgefühle, wenn ich besser behandelt werde als andere

0

1

2

3

4

5

 

 

Tätersensibilität

Zuletzt geht es um Situationen, in denen Sie selbst jemanden unfair behandeln, benachteiligen oder ausnutzen.

 

 

trifft

überhaupt  nicht

zu

trifft

voll und ganz

zu

 

 

 

 31  

Es macht mir zu schaffen, wenn ich mir etwas nehme, was eigentlich anderen zusteht.

0

1

2

3

4

5

 32  

Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich anderen eine Anerkennung versage, die sie verdient haben.

0

1

2

3

4

5

 33  

Ich kann das Gefühl schlecht ertragen, andere auszunutzen.

0

1

2

3

4

5

 34  

Wenn ich mir bewusst auf Kosten anderer Nachlässigkeiten erlaube, kann ich das lange Zeit nicht vergessen.

0

1

2

3

4

5

 35  

Es bedrückt mich, wenn ich anderen die Möglichkeit nehme, ihre Fähigkeiten zu entfalten.

0

1

2

3

4

5

 36  

Ich habe Schuldgefühle, wenn ich mich auf Kosten anderer bereichere.

0

1

2

3

4

5

 37  

Es macht mir zu schaffen, wenn ich mir durch Tricks Dinge verschaffe, für die sich andere abrackern müssen.

0

1

2

3

4

5

 38  

Wenn ich jemanden ohne Grund unfreundlicher behandle als andere, geht mir das lange durch den Kopf.

0

1

2

3

4

5

 39  

Es belastet mich, wenn ich jemanden für Dinge kritisiere, über die ich bei anderen hinwegsehe.

0

1

2

3

4

5

 40  

Ich habe Schuldgefühle, wenn ich jemanden schlechter behandle als andere.

0

1

2

3

4

5

 

 

Der Fragebogen liegt auch in Englisch, Französisch, Niederländisch, Chinesisch, Kroatisch, Türkisch und Tschechisch vor. Alle Fassungen können zur Verfügung gestellt werden (schmittm@uni-landau.de).

Die Messeigenschaften der beschriebenen Kurzskalen für Opfersensibilität, Beobachtersensibilität und Nutznießersensibilität wurden von Schmitt, Gollwitzer, Maes und Arbach (2005) untersucht. Insbesondere wurden die Skalen in dieser Studie anhand von Daten einer Länggschnittstudie Multi-Construct-Latent-State-Trait-Analysen (Steyer, Schmitt & Eid, 1999) unterzogen, um ihre Stabilität und Messgelegenheitsspezifität sowie die Korrelationen zwischen den Sensibilitätseigenschaften und den Sensibilitätszuständen zu ermitteln. Diese Analysen ergaben eine Stabilität von etwa .60 über einen Zeitraum von zwei Jahren, eine Messgelegenheitsspezifität von .32 bis .36, eine sehr geringe Methodenspezifität von maximal .02 und eine Mindestreliabilität von .95.

Die Korrelationen zwischen Beobachtersensibilität und Nutznießersensibilität waren hoch, beide Sensibilitäten korrelierten deutlich niedriger mit der Opfersensibilität. Dies galt für die Sensibilitätseigenschaften und die Sensibilitätszustände gleichermaßen. Die Korrelationen zwischen den Sensibilitätszuständen verweisen darauf, dass es zwischen diesen „Ansteckungseffekte“ gibt. Ein Ereignis, welches zur kurzfristigen Erhöhung der Nutznießersensibilität führt, erhöht auch die Sensibilität aus der Beobachterperspektive und umgekehrt.

Ziel der Studie von Schmitt et al. (2005) war auch die Verortung der Ungerechtigkeitssensibilität im Persönlichkeitsraum. Dazu wurden Maße für zahlreiche Referenzkonstrukte verwendet, insbesondere Gerechtigkeitskonstrukte (z.B. verschiedene Facetten des Glaubens an eine gerechte Welt), soziale Orientierungen (z.B. Empathie, Rollenübernahmefähigkeit, Machiavellismus, Misstrauen, Rachneigung, Eifersucht), die fünf Domänenfaktoren der Persönlichkeit (Extraversion, Neurotizismus, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Offenheit), einige ihrer Facettenfaktoren (Bescheidenheit, Vertrauen) sowie die drei Faktoren des PEN-Modells von Eysenck (Extraversion, Neurotizismus, Psychotizismus).

In einer aktuellen Studie wurden diese Analysen unter Berücksichtigung der Tätersensibilität wiederholt und ergänzt. Insbesondere wurden die vier Sensibilitäten nun auch in den Persönlichkeitsraum der Facettenfaktoren des Fünf-Faktoren-Modells eingeordnet (Schmitt, Baumert, Fetchenhauer, Gollwitzer, Rothmund & Schlösser, 2009).

Aktueller Forschungsstand

Der erwähnte Beitrag von Schmitt et al. (2009) fasst den aktuellen Forschungsstand und die bisher vorliegenden Validierungsbefunde zusammen. Nach einer Einführung in die wichtigsten Fragestellungen der Gerechtigkeitspsychologie und die differentiell-psychologische Perspektive in der Gerechtigkeitsforschung werden dort die folgenden acht Themen vertieft, die teilweise auch hier in geringerer Ausführlichkeit behandelt wurden:

1.            Indikatoren der Sensibilität für Ungerechtigkeit

2.            Ungerechtigkeitssensibilität und Reaktionen auf erlittene Ungerechtigkeit

3.            Facetten der Ungerechtigkeitssensibilität

4.            Einordnung der Ungerechtigkeitssensibilität in den Persönlichkeitsraum

5.            Ungerechtigkeitssensibilität und Verhalten in experimentellen Spielen

6.            Opfersensibilität als Sensibilität gegenüber gemeinen Absichten Anderer

7.            Ungerechtigkeitssensibilität und Zivilcourage

8.            Ungerechtigkeitssensibilität und Informationsverarbeitung

Hier die Zusammenfassung des Beitrags: Menschen unterscheiden sich in ihrer Sensibilität für Ungerechtigkeit. Diese Unterschiede sind stabil und lassen sich über einzelne Fälle von Ungerechtigkeit hinweg generalisieren. Ungerechtigkeitssensibilität gliedert sich in vier Facetten: Opfersensibilität, Beobachtersensibilität, Nutznießersensibilität und Tätersensibilität. Diese Facetten korrelieren systematisch untereinander. Wir stellen Untersuchungen vor, die Zusammenhänge der Facetten mit egoistischen und prosozialen Dispositionen und mit egoistischem und prosozialem Verhalten in experimentellen Spielen sowie mit Zivilcourage aufzeigen. In diesen Untersuchungen lassen sich die Facetten klar differenzieren. Während Beobachter-, Nutznießer- und Tätersensibilität in einem genuinen Bedürfnis nach Gerechtigkeit zu wurzeln scheinen, beinhaltet Opfersensibilität auch eine selbstbezogene Sorge, ausgebeutet zu werden. Vermittelnde Emotionen differenzieren weiterhin zwischen Beobachter- und Nutznießersensibilität: Beobachtersensibilität führt zu verstärkter Empörung, Nutznießersensibilität zu Schuldgefühlen als Reaktion auf Ungerechtigkeit. Erste Befunde lassen vermuten, dass der Einfluss von Ungerechtigkeitssensibilität auf Verhalten durch Prozesse der Informationsverarbeitung vermittelt wird. Zu diesen Prozessen gehören die automatische Aufmerksamkeitslenkung, die Interpretation mehrdeutiger Information und die Erinnerung an relevante Information. Als Ursache für die gefundenen Zusammenhänge zwischen Ungerechtigkeitssensibilität und Informationsverarbeitung wird die bei ungerechtigkeitssensiblen Personen erhöhte Aktivierbarkeit und Elaboriertheit von Gerechtigkeitskonzepten angenommen.

 

Literaturverzeichnis

Alle Artikel können als PDF-Dateien von Manfred Schmitt bezogen werden (schmittm@uni-landau.de).

Gollwitzer, M., Schmitt, M., Schalke, R., Maes, J. & Baer, A. (2005). Asymmetrical effects of justice sensitivity perspectives on prosocial and antisocial behavior. Social Justice Research, 18, 183-201.

Mohiyeddini, C. & Schmitt, M. (1997). Sensitivity to befallen injustice and reactions to unfair treatment in a laboratory situation. Social Justice Research, 10, 333-352.

Montada, L., Dalbert, C., Reichle, B. & Schmitt, M. (1986). Urteile über Gerechtigkeit, "Existentielle Schuld" und Strategien der Schuldabwehr. In F. Oser, W. Althof & D. Garz (Hrsg.), Moralische Zugänge zum Menschen - Zugänge zum moralischen Menschen (S. 205-225). München: Peter Kindt Verlag.

Montada, L., Schmitt, M. & Dalbert, C. (1986). Thinking about justice and dealing with one's own privileges: A study of existential guilt. In H.-W. Bierhoff, R.L. Cohen & J. Greenberg (Eds.), Justice in Social Relations (pp. 125-143). New York: Plenum Press.

Montada, L., Schneider, A. & Reichle, B. (1988). Emotionen und Hilfsbereitschaft. In H.W. Bierhoff & L. Montada (Hrsg.), Altruismus - Bedingungen der Hilfsbereitschaft (S. 130-153). Göttingen: Hogrefe.

Montada, L., & Schneider, A. (1989). Justice and emotional reactions to the disadvantaged. Social Justice Research, 3, 313-344.

Schmitt, M. (1996). Individual differences in sensitivity to befallen injustice. Personality and Individual Differences, 21, 3-20.

Schmitt, M., Baumert, A., Fetchenhauer, D., Gollwitzer, M., Rothmund, T. & Schlösser, T. (2009). Sensibilität für Ungerechtigkeit. Psychologische Rundschau, 60, 8-22.

Schmitt, M., Behner, R., Montada, L., Müller, L. & Müller-Fohrbrodt, G. (2000). Gender, ethnicity, and education as privileges: Exploring the generalizability of the existential guilt reaction. Social Justice Research, 13, 313-337.

Schmitt, M. & Dörfel, M. (1999). Effects of justice sensitivity and procedural injustice in the workplace on job satisfaction and psychosomatic well-being. European Journal of Social Psychology, 29, 443-453.

Schmitt, M., Gollwitzer, M., Maes, J. & Arbach, D. (2005). Justice sensitivity: Assessment and location in the personality space. European Journal of Psychological Assessment, 21, 202-211.

Schmitt, M. & Mohiyeddini, C. (1996). Sensitivity to befallen injustice and reactions to a real life disadvantage. Social Justice Research, 9, 223-238.

Schmitt, M. J., Neumann, R., & Montada, L. (1995). Dispoitional sensitivity to befallen injustice. Social Justice Research, 8, 385-407.

Schmitt, M., Rebele, J., Bennecke, J. & Förster, N. (2008). Ungerechtigkeitssensibilität, Kündigungsgerechtigkeit und Verantwortlichkeitszuschreibungen als Korrelate von Einstellungen und Verhalten Gekündigter gegenüber ihrem früheren Arbeitgeber (Post Citizenship Behavior). Wirtschaftspsychologie, 10, 101-110.

Steyer, R., Schmitt, M. & Eid, M. (1999). Latent state-trait theory and research in personality and individual differences. European Journal of Personality, 13, 389-408.