| Prof.
Dr. Andreas Ackermann
Überblickt man die
sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatte der letzten 100 Jahre
zum Thema Körper bzw. Verkörperung und Ritual, so lässt sich eine
mangelnde Berücksichtigung des somatischen feststellen sowie die
Tendenz, körperliche Erfahrung mit kognitiven und linguistischen
Modellen von Sinn bzw. Bedeutung zu interpretieren (Jackson 1983).
Dies zeigt sich an der Betrachtung von Körpern als Objekten bzw.
Oberflächen, die u.a. gesellschaftliche Normen repräsentieren,
symbolisieren oder widerspiegeln (z.B. Foucault, Douglas). Dasselbe
gilt für Rituale, die als Handlungen menschlicher Gemeinschaften
(Émile Durkheim), als Teil von Bedeutungssystemen (Victor Turner)
oder als Möglichkeit der Lesbarkeit dieser kulturellen
Bedeutungssysteme verstanden werden (Clifford Geertz) (Polit 2013,
215-216).
Dass Rituale aber
einschneidende Handlungen sind, die tatsächliche körperliche
Bedeutungen und Effekte haben können, wurde für die Wissenschaft
erst interessant, als Ethnologen und Religionswissenschaftler in den
1990er-Jahren begannen, die zugrunde liegende kartesianische
Körper-Geist-Dichotomie in Frage zu stellen. Die mit dieser
Dichotomie einhergehende Unterordnung der Phänomenologie unter die
Semiotik bzw. der Erfahrung unter die Sprache, so die Kritik, blendet
wesentliche Bereiche gelebter Erfahrung aus, wie sie gerade für das
Verständnis von Ritualen und die Verkörperung von Normen von
wesentlicher Bedeutung sind.
Mit dem über
Merleau-Ponty auf Heidegger zurückgehenden Begriff des
In-der-Welt-sein möchte beispielsweise Thomas Csordas (1990) diese
Dichotomie auflösen und mit dem Konzept der Verkörperung
(embodiment) den
Körper als Subjekt und existenzielle Grundlage von kulturellen
Handlungen rehabilitieren. Im phänomenologischen Ansatz von Csordas
existiert und entsteht das Selbst nur durch die verkörperte
Interaktion zwischen körperlicher Erfahrung, kulturellem Milieu,
Welt und Habitus. Diese Perspektive ermöglicht es, über den
abstrakten Körper als Ritualobjekt hinaus Körperlichkeit als
grundlegendes Charakteristikum menschlichen Existenz und als Teil der
Multiperspektivität und Multivokalität sozialer Beziehungen zu
begreifen (Polit 2013, 218).
Nimmt man den
Ausgangspunkt des In-der-Welt-sein in Bezug auf den Körper ernst, so
gilt es, normative Aspekte der Verkörperung nicht nur in der
Situation des Rituals – das ja per
definitionem eine
Ausnahmesituation darstellt – sondern gerade auch im Alltag in den
Blick zu nehmen. Dabei soll an David MacDougalls (2006) Begriff der
„Sozialen Ästhetik“ angeknüpft werden. Er bezieht sich dabei
nicht auf eine Ästhetik im Sinne der schönen Künste oder
Kantischer Philosophie, sondern auf etwas, das näher an dem
klassisch-griechischen Konzept der aisthesis
oder „Sinneserfahrung“ ist, bzw. das, was Alexander Gottlieb
Baumgarten im 18. Jh. als die „Wissenschaft von der sinnlichen
Erkenntnis“ bezeichnete. Für MacDougall umfasst Ästhetik also
eine wesentlich größere Bandbreite an kulturell vermittelten
sensorischen Erlebnissen. Ihm geht es dabei auch nicht um eine
Bewertung dieser Erfahrungen (wie etwa in der europäischen
Ästhetik), außer vielleicht im Hinblick auf die Unterscheidung von
vertraut und unvertraut.
Soziale Ästhetik geht
davon aus, dass sich Normen und Werte sichtbar im Raum manifestieren.
Das ästhetische Feld umfasst die physische Manifestation von
Handlungen und Objekten einer internalisierten Ordnung. Solche
normativen Ordnungen zeichnen sich besonders deutlich in
„geschlossenen Anstalten“ (vgl. Goffmans Asyle) ab (so hat
MacDougall den Begriff vor dem Hintergrund seiner Erfahrung in
Internaten geprägt), sind aber auch z.B. in den materialen
Arrangements von Wohnzimmern zu finden (Miller 2010).
Einen weiteren wichtigen
Aspekt von Verkörperung stellt (gerade in normativer Hinsicht) die
affektive Betroffenheit durch das Wahrgenommene dar, die im
Mittelpunkt des Atmosphären-Begriffs von Gernot Böhme steht. Böhme
(2013) beschreibt die Atmosphäre als räumlichen Träger von
Stimmungen, als das, was in leiblicher Anwesenheit bei Menschen und
Dingen bzw. in Räumen erfahren wird. In diesem Zusammenhang plädiert
er auch für eine Neukonzeption der Ding-Ontologie, die Dinge nicht
länger als Abgrenzung und Einheit auffasst, sondern als Weisen, aus
sich herauszutreten und nach außen zu wirken („Ekstasen des
Dings“). Böhme interessiert sich dabei vor allem für die –
normativ durchaus relevante – ästhetische Arbeit, d.h. das (sowohl
unreflektierte wie strategische) Machen
von Atmosphären in den Bereichen des Alltags, der Kunst, der Politik
und der Wirtschaft.
Aus dem Vorangegangenen
dürfte deutlich geworden sein, dass die Erforschung kultureller
Verkörperungsaspekte von einer ethnographischen Vorgehensweise
wesentlich profitieren kann. In-der-Welt-sein bzw. affektive
Betroffenheit lässt sich eben nicht zur Hauptsache
sprachlich-kognitiv erfassen, es bedarf einer Teilnehmenden
Beobachtung auch im Sinne „dichten Teilnahme“ (Spittler 2001),
d.h. einer körperlich-sinnlichen Involviertheit des Forschers bzw.
der Forscherin. Damit in Zusammenhang steht auch die Frage nach den
geeigneten Medien der Dokumentation und Repräsentation von
Forschung(-sergebnissen), die im konkreten Falle nicht nur im Körper
des Forschers bzw. der Forscherin, sondern idealerweise auch in
audiovisuellen Medien bestehen sollten, die aufgrund ihrer Spezifik
z.B. Phänomene von Atmosphäre, Materialität oder auch Bewegung
‚festhalten’ und auch solchermaßen zu einer neuen Perspektive
auf Kulturelle Orientierung und normative Bindung beitragen können. Literatur
Böhme,
Gernot, 72013: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin:
Suhrkamp.
Csordas,
Thomas J., 1990: Embodiment as a Paradigm for Anthropology. In:
Ethos 18/1, 5-47.
Jackson,
Michael, 1983: Knowledge of the Body. In: Man (N.S.) 18, 327-45.
MacDougall,
David, 2006: Social aesthetics and the Doon School. In: ders.: The
Corporeal Image: Film, Ethnography, and the Senses. Princeton:
Princeton University Press, 94-119.
Miller,
Daniel, 2010: Der Trost der Dinge. 15 Porträts aus dem London von
heute. Berlin: Suhrkamp.
Polit,
Karin, 2013: Verkörperung. In: Brosius / Michaels / Schrode (Hg.),:
Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien,
Diskussionen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 211-215.
Spittler,
Gerd, 2001: Teilnehmende Beobachtung als Dichte Teilnahme. In:
Zeitschrift f. Ethnologie 126, 1-25.
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