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Dr. Jürgen Goldstein
Thema
Liberale Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen
Pluralismus an Weltanschauungen, Wertoptionen, kulturellen
Hintergründen und religiösen Überzeugungen repressionsfrei ermöglichen.
In diesem Pluralismus treffen verschiedene Weltorientierungen mitunter
koexistierend, oftmals aber auch dissonant aufeinander. Die daraus
resultierenden Stabilitätsprobleme, die sich verschärfenden
Gerechtigkeitsfragen, die normativen Absicherungsbedürfnisse
verfassungsrechtlich garantierter Hintergrundstrukturen bestimmen die
Hauptaufgaben der politischen Philosophie der Gegenwart. Die
Lösungsansätze der politischen Philosophie sind ihrerseits komplementär
aufeinander bezogen oder sich voneinander abgrenzend – der Disput
zwischen politischen Liberalisten und Kommunitaristen ist für diese
Verwerfung kennzeichnend. John Rawls hat in der Reihe der großen politischen Philosophen, wie Jürgen Habermas
bemerkt, als erster den weltanschaulichen Pluralismus ernst genommen
– indem er, in Anschluss an Joshua Cohen, einen faktischen von einem
vernünftigen Pluralismus unterschieden hat. Die systematische
Schlüsselstellung von Rawls in der gegenwärtigen politischen Diskussion
hat ihn zum Klassiker der Moderne werden lassen, ohne dass eine
Zustimmung zu seiner Position vorausgesetzt wird. Aus
problemindikatorischer Absicht wird Rawls’ politischer Liberalismus zum
Ausgangspunkt des Projekts gemacht. Eine
zentrale Leistung des politischen Liberalismus ist die Definition des
vernünftigen Pluralismus, der die tradierten Vorstellungen vom
faktischen Pluralismus korrigiert. Unter einem faktischen Pluralismus
ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Unhintergehbarkeit ihrer
pluralen Verfasstheit zu verstehen. Historisch betrachtet seit der
Kirchenspaltung und der toleranten Akzeptanz divergierender religiöser
Weltanschauungen seit 1648 wird der faktisch bestehende Pluralismus
realpolitisch akzeptiert, aber dennoch als ein schmerzlicher Verlust
einer vorangehenden Einheit begriffen. Der vernünftige Pluralismus
dagegen begreift die plurale Verfasstheit der modernen Gesellschaft als
das ausdrücklich zu begrüßende Resultat der restriktionsfrei agierenden
praktisch-politischen Vernunft. Für Rawls ist daher der moderne
Pluralismus ein Pluralismus der vernünftigen Universallehren, für die
der politische Liberalismus die stabilitätsstiftende
Hintergrundstruktur generieren soll. Es ist somit für
Rawls vernünftig, dass es einen vernünftigen Pluralismus gibt. Die
politische Moderne selbst wird somit zum Ausdruck der politischen
Vernunft. Die Konsequenzen dieser Konzeption
sind gravierend. Der politische Liberalismus hat ohne
Wahrheitsansprüche auszukommen, begründet die stabilitätsgarantierende
Verfassung im Rahmen einer freistehenden Auffassung (free-standing
view) posttraditional, postmetaphysisch, postreligiös, bietet aber für
den Pluralismus an vernünftigen Universallehren eine
stabilitätsstiftende, verfassungsgarantierte und gerechte
Hintergrundstruktur (background justice). Die gegenwärtigen
Krisenerscheinungen der liberalen Gesellschaft – in Form von
Legitimationsproblemen, moralischpolitischen Motivationsdefiziten,
ungelösten Gerechtigkeits- und Stabilitätsfragen – lassen es zu einer
drängenden Frage werden, ob der Grundansatz einer Wertschätzung des
vernünftigen Pluralismus durch Rawls zu verteidigen ist. Die
vermeintliche Wiederkehr der Religion in den gegenwärtigen Debatten
ist ein Indiz für die aktuelle Infragestellung der Selbststabilisierung
der plural verfassten politischen Moderne. Kein Aspekt bezeichnet somit
genauer sowohl die Leistung der modernen Gesellschaft als auch die
Herausforderung, vor der sie steht. Der vernünftige Pluralismus ist
zugleich das Stichwort für ihre historische Leistung wie für ihre
gegenwärtige Krise. Damit deutet sich an, dass
mit der Einschätzung des vernünftigen Pluralismus keinesfalls lediglich
die politische Theorie von Rawls auf dem Spiel steht. Wenn Rawls’
Resümee zutrifft, dass die politische Moderne in ihrem Kern ein
Pluralismus des Vernünftigen ist, dann steht die politische Moderne
selbst auf dem Spiel, wenn liberale Gesellschaften diesen Pluralismus
nicht auf konsenstaugliche Weise zu beherbergen vermögen.
Methodischer/systematischer Hintergrund Die Frage nach dem vernünftigen Pluralismus ist daher eine Frage nach
der politischen Moderne. Das auf eine Buchpublikation ausgerichtete
Projekt, dessen Thesen im Rahmen einer Forschergruppe überprüft,
vernetzt und weiterentwickelt werden sollen, besitzt daher über den
systematischen Ansatz hinaus eine historische Perspektive. In einem ersten Schritt soll eine historische Vergewisserung den Aspekt
des Pluralismus als für die Moderne signifikant ausweisen. Dazu werden
Autoren ab dem 14. Jahrhundert mit der heuristischen Absicht
interpretiert, das Pluralismusphänomen epochenspezifisch zu situieren.
Da sich ausschließlich von einem modernen Standpunkt aus bestimmen
lässt, was wir unter Moderne verstehen, wird der Aspekt des
Pluralismus als vorgängige Arbeitshypothese eingebracht. Damit wird
zwar das zu erzielende Ergebnis ein Stück weit vorausgesetzt, anders
aber lassen sich Lesbarkeiten der Moderne nicht gewinnen. Im Sinne
einer normativen Rekonstruktion (A. Honneth) soll auf diese Weise
eine genealogische Struktur der Moderne herauspräpariert werden. Rawls’
politischer Liberalismus wird dabei nicht à la Hegel zum Zielpunkt
einer teleologischen Entwicklung erklärt. Wohl aber soll nachgewiesen
werden, dass sich Rawls’ diagnostische Modernitätsbestimmung begriffs-
bzw. ideengeschichtlich absichern lässt. Dazu
ist eine genealogische Skizze notwendig: Mit der nominalistischen
Metaphysikkritik des 14. Jahrhunderts setzt ein modernitätseinweisender
Abbau des weltanschaulichen Holismus ein, der auch für die Konzeptionen
des Politischen bedeutsam wird. Das lässt sich an Ockham, Dante,
Marsilius von Padua und Machiavelli aufzeigen. Deren Grundlegung des
Politischen unter spät- bzw. nachmittelalterlichen Bedingungen hat sich
durch die Entsakralisierung der Macht und durch die Kritik an
onto-theologisch gestützten Weltbildannahmen als wegweisend erwiesen.
Folgende Konzeptionen – Hobbes, Locke, Rousseau und weitere –
reflektieren auf spezifische Weise die Bewältigung des säkular
aufgebrochenen Spannungsverhältnisses von Pluralismus und Einheit. Der
akzeptierte faktische Pluralismus und die Konzeptionen einer
einheitsstiftenden Verrechtlichung gesellschaftlicher Ordnungen (etwa
bei Pufendorf und Kant) bzw. die institutionelle Organisation
gemeinschaftlicher Praxen (z.B. bei Hegel) profilieren auf je originäre
Weise ein doch zusammenhängendes signifikantes Merkmal des Politischen
in der Moderne. In einem zweiten Schritt soll
die systematische Dringlichkeit der Annahme eines gegebenen
vernünftigen Pluralismus in Anlehnung an Rawls und mit Blick auf
klassische politische Autoren des 20. Jahrhunderts erörtert werden.
Dazu ist zunächst eine Abgrenzung des vernünftigen Pluralismus von
Spielarten der Postmoderne zu leisten. Daraufhin werden verschiedene
klassische Entwürfe des Politischen in der Gegenwart vor dem
Hintergrund des politischen Pluralismus diskutiert.
Ziele
Im Rahmen einer zu entwerfenden Theorie der Moderne unter dem
Leitaspekt des Pluralismus steht das genannte Projekt in der
Fortsetzung bislang bereits erfolgter Forschungsvorhaben: Wurde die
Originalität und Spezifität der Moderne zunächst durch ihren Beginn im
spätmittelalterlichen Nominalismus untersucht (J.G., Nominalismus und
Moderne, 1998), hat eine Studie zur Genese des cartesischen
Rationalismus (J.G., Kontingenz und Rationalität bei Descartes, Hamburg
2007) auf der einen und eine Darstellung des empirischen Blicks auf der
anderen Seite (J.G., Die Entdeckung der Natur, im Druck) zwei
gewichtige Modernitätsfacetten in den Blick genommen. Eine 2013
abzuschließende historisch-systematische Studie zum Zusammenhang von
Erfahrung und politischer Aktion bei Georg Forster ergänzt die
vorgenommenen Modernitätsbestimmungen. Die im Anschluss an das
Forster-Buch geplante Monographie zum vernünftigen Pluralismus wendet
sich dem Reflexionsfeld des Politischen zu, um durch den
themenspezifischen Zugriff die gewonnenen Erkenntnisse zu integrieren
bzw. zu erweitern.
Literatur
- J. Goldstein: Perspektiven des politischen Denkens. Sechs Portraits, Weilerswist 2012.
- J.
Goldstein: Die Religionen innerhalb der Grenzen der politischen
Vernunft, in: M. Kühnlein, Kommunitarismus und Religion, Berlin 2010,
57-70.
- J. Goldstein: Säkularisierung als Vorsehung. Charles Taylors
Erzählung der Moderne, in: M. Kühnlein/M. Lutz-Bachmann (Hg.),
Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles
Taylor, Berlin 2011, 623-649.
© 2014 Universität Koblenz-Landau
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