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| Prof. Dr. Christian Bermes
Thema
Der
Kulturbegriff erfüllt vielfältige Aufgaben und steht im Dienst
unterschiedlicher Interessen und Funktionen. Beispielsweise
unterscheidet sich die gesellschaftliche Debatte um die Kultur als
Prinzip von Einheit oder aber auch als Prinzip von Differenz sozialer
Ordnung von der politischen Debatte um die Kultur als Teil oder als
Fundament des staatlichen Aufbaus. Davon unabhängig sind wiederum
kulturwissenschaftliche Kulturbegriffe, die ein Untersuchungsterrain
markieren, in dem die unterschiedlichen symbolischen Ordnungen der
menschlichen Weltgestaltung verständlich werden. Sprache, Kunst,
Recht, Wirtschaft, Religion oder auch Wissenschaft können als solche
symbolische Ordnungen verstanden und analysiert werden. Eine
Differenz jedoch kann über die einzelnen Debatten hinweg als
entscheidend angesehen werden: Der Kulturbegriff fungiert zum einen als
Medium der menschlichen Selbstgestaltung (menschliches Leben
realisiert sich in der Kultur als Welt des Menschen), zum anderen
jedoch auch als Gerüst, das dieser Selbstgestaltung Struktur und Halt
verleiht. Nicht nur im Medium der Kultur realisiert sich die Lebensform des Menschen, auch nur mit Blick auf die Kultur kann die
Selbstgestaltung gelingen. Das Forschungsvorhaben geht dieser
Ambiguität nach, um den systematischen Rahmen einer Kulturphilosophie
zu etablieren, in dem beide Aspekte diskutierbar werden. Den
Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens bildet eine Diagnose, die man als
Krisis der Kulturphilosophie bezeichnen und in Anlehnung an den
Husserlschen Begriff der Krisis verstehen kann (Husserl, Krisis der
europäischen Wissenschaften, 1936/1976). Vor dem Hintergrund des
Befunds Husserls, der mit Blick auf die Entwicklung der
naturwissenschaftlichen Methoden seit der Neuzeit darauf aufmerksam
macht, dass die wissenschaftliche Methode an die Stelle des
Untersuchungsgegenstands tritt und die sinnstiftende Bedeutung des
Gegenstandes verloren zu gehen droht, lässt sich mit Blick auf die
Entwicklung der Kulturphilosophie im 20. Jahrhundert fragen, ob nicht
auch hier die Gefahr gegeben ist, dass die Methode (der
kulturphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Analytik) an die
Stelle
der kulturellen Erfahrung tritt. Denn die Etablierung der
kulturphilosophischen Reflexion im Übergang vom 19. zum 20.
Jahrhundert vollzieht sich u. a. vor dem Hintergrund der
Ausdifferenzierung einer als Einheit angenommenen Kultur in Subsysteme
(Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Recht etc.), die beispielsweise
von Cassirer als symbolische Formen oder von Luhmann als Systeme
diskutiert werden. Historische Genese und Entwicklung lassen diese
Systeme bzw. Formen verständlich werden und können formal auf ihre
jeweiligen Grammatiken hin ausgelegt und diskutiert werden. Kultur
erscheint dann als ein historisch gesättigtes Formsystem von Regeln.
Die sich in dieser Tradition ausbildende Kulturphilosophie stellt sich
sowohl der historischen Dimension der Kultur als auch dem Befund der
Pluralität von Kulturen. Bezeichnend jedoch ist, dass diejenige
Dimension der Kultur, die mit Blick auf eine gelingende Lebensführung
relevant ist, in den Hintergrund eines derart ausgerichteten Ansatzes
tritt. Wenn aber Kultur nicht nur als der Horizont verstanden wird, in
dem sich die menschliche Lebensform realisiert, sondern auch als das
Gerüst, das dieser Realisierung Struktur und Halt verleiht, so ist zu
fragen, wie weit die Erklärungskraft einer formalen Kulturanalytik
reicht und ob nicht alternative Zugänge möglich und nötig sind, die der
kulturellen Erfahrung selbst Rechnung tragen. In diesem Sinne fragt das
Projekt nach den Grenzen einer formalen Kulturanalytik und versucht
Bausteine für eine Kulturphilosophie zu legen, die material
ausgerichtet ist und der Normativität der Kultur als Gerüst der
menschlichen Selbstgestaltung Rechnung trägt.
Methodischer/systematischer Hintergrund
Das
Forschungsvorhaben ist historisch und systematisch in dem Sinne
ausgerichtet, dass in einem ersten Schritt exemplarisch die Konstanten
der kulturphilosophischen Reflexion und Systematik herausgestellt
werden, wie sie sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts (Simmel,
Cassirer, Rothacker etc.) zeigen. Vor diesem Hintergrund entwickelt
sich eine systematische Diskussion, die an Wittgensteins Analysen anschließt, um mit den Mitteln der begrifflichen Analyse eines
lebensformgebundenen Regelbegriffs zu neuen Erkenntnissen für die
Kulturphilosophie zu gelangen. Mit
Blick auf Wittgenstein lassen sich
mindestens drei Diskussionskreise unterscheiden, die aufeinander
verweisen und eine kulturphilosophische Ausformulierung seines
Ansatzes ermöglichen und fordern. Erstens: Wittgensteins Distanz
bewahrende, somit kritische wie produktive Aneignung Spenglers, die in
den Vermischten Bemerkungen erkennbar ist, und seine
Auseinandersetzung mit Frazer in den Bemerkungen über Frazers Golden
Bough, in denen die Konzepte der Familienähnlichkeit,
der übersichtlichen Darstellung sowie der Suche
nach Zwischengliedern
als Konzepte des Kulturverstehens präsentiert werden. Diese
kulturhermeneutischen Werkzeuge finden unmittelbar Eingang die in die
sprachphilosophische Analytik der Philosophischen Untersuchungen.
Zweitens: Wittgensteins Ausarbeitung einer Gebrauchstheorie der
Bedeutung im Kontext einer Analyse von Sprachspielen und
eingebettet
in eine Phänomenologie von Lebensformen in den Philosophischen
Untersuchungen, die nicht einfach nur auf die praktische und soziale
Verankerung der Sprache aufmerksam machen, sondern insbesondere auf die
notwendig kulturelle Form dieser Sozialität in Institutionen
und Gebräuchen. Drittens: Wittgensteins Differenzierung
von Wissen
und Gewissheit in der Auseinandersetzung mit den Überlegungen zum
Common Sense George Edward Moores, die als Ansatz einer hermeneutischen
Archäologie der Kultur in praktischer Hinsicht verstanden
werden können. Durch all diese
Überlegungen zieht sich ein roter
Faden, den Wittgenstein immer wieder aufgreift und neu knüpft. Er
besteht einerseits aus einer methodischen Warnung und andererseits
der Kritik eines Vorurteils. Kultur als Medium und Gerüst der
menschlichen Orientierung, so seine Warnung, fällt nicht mit den
kulturellen Vorkommnissen zusammen. Gesucht wird vielmehr eine andere
Arithmetik (Wittgenstein, Über Gewissheit § 375) der
Beschreibung von Kultur, die nicht auf die einfache Arithmetik der
Erklärung von kulturellen Vorkommnissen reduziert werden kann. Diese
Warnung darf durchaus auch transzendentalphilosophisch verstanden
werden, wenngleich die Bedingung der Möglichkeit der Kultur, nicht im
Wissen, sondern an anderer Stelle zu suchen ist, worauf Wittgensteins
Kritik eines stets und in wechselnden Gestalten wiederkehrenden
Vorurteils hinweist. Dieses liegt darin begründet, dass Kultur nicht
auf Meinungen über die Kultur zurückzuführen ist, auch nicht auf die
Meinungen der Mitglieder der Kultur selbst. Denn das Medium der Kultur
ist die Praxis. Insbesondere in seiner letzten Schaffensphase ist es
das Ziel Wittgensteins, diese Praxis vermittels des Begriffs der
Gewissheit zur Sprache zu bringen.
Ziele
Das
Forschungsvorhaben verfolgt historische, gegenwartsdiagnostische und
systematische Ziele. Historisch soll ein vertieftes Verständnis der
Entwicklung der Kulturphilosophie des 20. Jahrhunderts dazu
beitragen, die Grenzen eines formalen Kulturbegriffs zu erkennen.
Gegenwartsdiagnostisch leistet das Forschungsvorhaben einen Beitrag für
die aktuellen politischen und öffentlichen Diskussionen, indem die
Ambiguität des Kulturbegriffs herausgestellt und problematisiert wird.
In diesem Sinne lässt sich auch ein besseres Verständnis der
Diskussionen erzielen, die sich beispielsweise an dem von Bassam Tibi
in die Diskussion eingebrachten Begriff der Leitkultur entzündeten.
Schließlich liegt das Hauptgewicht des Vorhabens auf der systematischen
Grundlegung einer kulturphilosophischen Konzeption, die der
diagnostizierten Krisis der Kulturphilosophie zu begegnen vermag.
Literatur
- C.
Bermes: Anschluss verpasst? Husserls Phänomenologie und die
Systemtheorie Luhmanns, in: Dieter Lohmar, Dirk Fonfara (Hg.):
Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, Dordrecht 2006, S. 18-37.
- C. Bermes: Die Grenzen des Wissens und die Bedeutung des
Lebens. Wittgensteins Überlegungen in Über Gewissheit im Kontext der
Anthropologie und Kulturphilosophie, in: Ralf Konersmann (Hg.), Leben
denken – Kultur denken, Freiburg i. Br. 2007, S. 250-270.
- C. Bermes:
Die Gewissheit der Kultur und die Tatsache des Textes, in: Textualität.
Methoden und Probleme der Kulturphilosophie, hrsg. v. C. Bermes,
Würzburg 2009, S. 105-122.
- C. Bermes: Struktur als Prinzip und
Tatsache. Zur Methodologie der Kulturwissenschaften, in: B. Seidenfuß
(Hg.): Whitehead – Cassirer – Piaget, Freiburg i. Br. 2009, S. 278-294.
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