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KULTURELLE ORIENTIERUNG
UND NORMATIVE BINDUNG
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Rituale, Identitäten und der Raum der Gründe
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Prof. Dr. Matthias Jung


Thema

Pluralistische Gesellschaften inkorporieren eine Vielzahl von Traditionen, Riten und Institutionen, deren Verhältnis zu ihren übergreifenden Wertvorstellungen und Normen unklar ist. Stellt etwa die Zirkumzision bei Kindern einen atavistischen Brauch dar, der im Namen persönlicher Autonomie und Integrität abzuwehren ist, oder ein legitimes, identitätsbildendes Ritual, das von der Religionsfreiheit geschützt wird? In der erregten Debatte zu dieser Frage finden beide Positionen und auch vielfältige vermittelnde Standpunkte ihre Vertreter. Weniger oder gar nicht wird dabei meist realisiert, dass es hier nur zum Teil um die Beschneidungsfrage, ebenso aber auch um das grundsätzlichere Problem geht, was in einer demokratischen, pluralistisch verfassten Gesellschaft überhaupt als normative Basis gilt, deshalb in der Öffentlichkeit eingebracht werden und den Schutz universalistischer Rechtsnormen beanspruchen darf. Was nicht diskursiv begründet werden kann, so fordert die aufgeklärte Vernunft, zählt nicht. Hier stellt sich dann sofort die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang Rituale und identitätsstiftende Narrative Begründungsfunktionen übernehmen können. Diese Frage lässt sich nur interdisziplinär beantworten, weil sie normative Analysen erfordert, die empirisch gesichertes Wissen über aktuelle kulturelle Praktiken und deren historische Genese voraussetzen. Das Forschungsprojekt wird sich dabei anhand exemplarischer Beispiele auf die bislang häufig vernachlässigten Zusammenhänge zwischen rationalen Diskursen und verkörperten Lebensformen beziehen. Die von Neuhaus/Schaffers herausgestellte Sakralisierung der schriftstellerischen Produktion (vgl. Cluster 3, Teilprojekt Kulturelle Orientierung durch literarische Kanonbildung) seit dem Ende des 18. Jh. zeigt beispielhaft, wie normative Rangordnungen nicht über diskursive Begründungen allein, sondern mindestens ebenso sehr über leibgebundene Performanzen erzeugt werden. 


Methodischer/systematischer Hintergrund
   

Die klassische Antwort auf die Frage nach Gründen für soziale Normen, gegeben von der internationale Reputation genießenden Diskurstheorie Jürgen Habermas`, lautet freilich: es zählt nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments, und als Argument gilt nur, was an allgemein zugängliche Vernunftgründe appelliert. Doch selbst Habermas hat kürzlich davon gesprochen, dass Gründe verkörpert sind, also mit persönlicher Erfahrung, Körperpraktiken und sozialen Ritualen unauflöslich verwoben bleiben (Habermas, Nachmetaphysisches Denken II, 2012, 54-76). Das Philosophieseminar ist eben kein gutes Modell für den öffentlichen Raum der Gründe (Sellars). Wir brauchen ein Verständnis von öffentlicher Argumentation und Kritik, das Lebensformen, Rituale und Diskurse unterscheidend aufeinander bezieht, statt sie zu trennen. Dabei geht es elementar auch um das Verhältnis von Werten (emotional attraktiven, an kontigente Traditionen gebunden Vorstellungen des Guten, vgl. Joas, Die Entstehung der Werte, 1999) und Normen (universell verpflichtenden Regeln, die das für alle Richtige zum Gegenstand haben, vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/Main 1991).
Erinnert man sich an die schon einige Jahre zurückliegenden Debatten zwischen Liberalismus und Kommunitarismus, so wird deutlich, dass auch damals schon der Unterschied zwischen relativ freistehenden und verkörperten Gründen (für Moral, sozialen Zusammenhalt etc.) im Zentrum stand. Der Ertrag dieser Auseinandersetzung blieb aber begrenzt, weil die anthropologischen Grundlagen des Konfliktes ausgespart blieben. Es muss danach gefragt werden, welche systematisch, anthropologisch und semiotisch beschreibbaren Zusammenhänge zwischen den Formen bestehen, in denen in einer pluralistischen Gesellschaft Identitäten und normative Orientierungen geltend gemacht werden. Diese systematische In-Beziehung-Setzung von Anthropologie, Ethik und Sozialtheorie ist ein wichtiges Desiderat philosophischer Forschung. 
Es sind vor allem zwei neuere theoretische Entwicklungen, die es lohnend erscheinen lassen, die Frage nach Pluralität und Einheit der Begründungsformen wieder aufzuwerfen: zum einen die Achsenzeitdebatte (Bellah, Religion in Human Evoluti- on, 2011; Bellah/Joas (Eds.), The Axial Age and Its Consequences, 2012), die es erlaubt, verschiedene kulturelle Formen aufeinander zu beziehen, ohne sie einer westlich oder gar abendländisch geprägten Teleologie zu unterwerfen. Zum anderen die Integration kulturtheoretischer, entwicklungs- und evolutionspsychologischer Einsichten in der neueren Anthropologie (Deacon, The Symbolic Species, 1997; Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, 2006; Jung/Heilinger (Hg.), Funktionen des Erlebens, 2009; Jung, Der bewusste Ausdruck, 2009). Beide Entwicklungen konvergieren insoweit, als hier allgemein teilbare Gründe für nicht allgemein teilbare, pfadabhängige Kulturentwicklungen sichtbar werden. Zwei Aspekte sind entscheidend: die Achsenzeitdebatte macht deutlich, dass höherstufige Formen der Kommunikation und Normbildung die evolutionär und kulturgeschichtlich frühen Formen nicht abstoßen können, sondern in veränderter Form inkorporieren: "Nothing is ever lost." (Bellah, Religion in Human Evolution, 267 u. passim). Die anthropologische Analyse der Genese symbolischen Bewusstseins zeigt komplementär, dass Normativität stets eine Verbindung symbolisch-generalisierter und verkörperter Zeichenpraktiken voraussetzt.  


Ziele

Das philosophische Teilprojekt ist transdisziplinär ausgerichtet. Fallanalysen – etwa zur Beschneidung als Identitätsmarker im Spannungsfeld zwischen literaler und metaphorischer Interpretation oder zur Kanonbildung durch öffentliche Rituale – sollen mit anthropologischen Modellbildungen so in Beziehung gesetzt werden, dass charakteristische Austauschbeziehungen zwischen, grob gesagt, Ritualen, Erzählungen und Argumenten sichtbar werden. Normativ geht es dabei um die entscheidende Frage, ob sich im Rahmen eines moralisch-rechtlichen Universalismus, wie er etwa im Menschenrechtsdiskurs verkörpert ist, Kriterien für die Einbeziehung oder Zurückweisung ritueller und/oder narrativer Identitäten finden lassen. Ziel ist die Suche nach einem Spielraum öffentlicher Vernunft, der sich von den Extremen fundamentalistischer Berufung auf irrtumsimmune heilige Riten und Texte und einer Beschränkung auf den formalen Universalismus einer Minimalmoral andererseits gleichweit entfernt hält. Dazu gilt es, die Idee verkörperter Gründe in ihren Grenzen genauer zu bestimmen. Ohne ein kulturwissenschaftlich vertieftes Verständnis der Bedeutung von Ritualen und narrativen Identitäten ist dies nicht möglich. Ziel ist ein anthropologisches Modell, das die kulturelle Entstehung normativer Bindungen in partikularen Praktiken gleichermaßen verständlich macht und in einen universalistischen Rahmen stellt. 


Literatur
  • M. Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, De Gruyter: Berlin/New York 2009.
  • M. Jung: Verkörperte Intentionalität – Zur Anthropologie des Handelns, in: Bettina Hollstein/Matthias Jung/Wolfgang Knöbl (Hg.), Handlung und Erfahrung. Das Erbe von Historismus und Pragmatismus und die Zukunft der Sozialtheorie, Campus: Frankfurt am Main/New York 2011.
  • M. Jung: Embodiment, Transcendence and Contingency. Anthropological Features of the Axial Age, in: Robert N. Bellah/Hans Joas (Eds.), The Axial Age and Its Consequences, Harvard University Press: Cambridge MA und London 2012.






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