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| Prof. Dr. Stefan Neuhaus, Prof. Dr. Uta Schaffers
Thema
Auch das nun folgende Konzept geht davon aus, dass in der
Sprache und Literatur unserer plural verfassten, reflexiv-modernen
Gesellschaft keine allgemein verbindlichen Normierungen und
Standardisierungen mehr unhintergehbare Geltung beanspruchen können und
dass es darauf ankommt, die beobachtbaren Normierungsbestrebungen
zunächst einmal wertfrei zu erfassen und zu beschreiben, um ihre
Leistungen, Kontingenzen und Probleme in den Blick nehmen zu können.
Das Lesen von und die Verständigung über Literatur gehört zum Kern
kultureller Identität, zumindest bis weit in das 20. Jahrhundert.
Literarische Texte sorgten lange Zeit für kulturelle Orientierung,
oftmals auf durchaus problematische Weise, etwa indem sie im 19./20.
Jahrhundert die Konstruktion einer nationalen Identität bis hin zur
nationalistisch oder rassistisch motivierten Exklusion vermeintlich
andersartiger Gruppen förderten (Neuhaus 2002). Die Lektüre bestimmter
Texte wurde zelebriert und ritualisiert, wobei die Entwicklung des
Literaturbetriebs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch als
Sakralisierung beschrieben werden kann. Schriftsteller inszenierten
sich als Genies, Schöpfer und Propheten oder wurden als solche verehrt.
In der Inszenierung von Lesungen oder der Vergabe von Literaturpreisen,
um nur zwei Beispiele zu nennen, ist immer noch ein Rest solcher
Sakralisierung enthalten. Die (tatsächlich eher heterogene) Gruppe des
(sogenannten) Bildungsbürgertums definierte sich lange Zeit stark über
die Lektüre bestimmter AutorInnen, vor allem der Vertreter der Weimarer
Klassik und der Romantik. Auch heute noch hat das Lesen bestimmter
Texte die Funktion von Identitätsmarkern, etwa für bestimmte
Gruppenzugehörigkeiten. Wer
sich mit Literatur beschäftigt, muss sich also auch die Frage stellen
lassen, welche Texte er aus welchen Gründen für welche Zwecke auswählt.
Hatte ein Literaturkanon früher den Status von (mythologischer)
Selbstbegründung, muss das Lektüreverhalten in pluralistischen
Gesellschaften argumentativ abgesichert werden. Der professionelle
Umgang mit Literatur (etwa in zentralen Bildungsinstitutionen wie der
Schule) setzt ein Bewusstsein über Kategorien und Kriterien
literarischer Wertung voraus. Umso erstaunlicher ist es, dass diese
Frage bis vor einigen Jahrzehnten im literaturwissenschaftlichen
Diskurs gar keine Rolle gespielt und erst seit den 1990er Jahren
stärkere Beachtung in der Forschung erfahren hat. In der Breite des
Literaturstudiums oder in der anwendungsorientierten Forschung ist die
Frage nach der Leistung der Literatur für kulturelle Orientierung und
normative Bindung aber bisher kaum angekommen. Welche Maßstäbe legen
Akteure im Literaturbetrieb an Literatur aus welchen Gründen heraus an?
Universitäten
bilden Literatur- und Kulturvermittler sowie Deutschlehrer aus – die
universitäre Forschung ist also gefordert, die für die
Literaturwissenschaft zentrale Frage der Leistung von literarischer
Wertung und Kanonbildung für die kulturelle Identität
gesellschaftlicher Gruppen stärker theoretisch zu reflektieren und
empirisch-praktisch zu untersuchen.
Methodischer/systematischer Hintergrund
Seit es Literatur gibt, gibt es eine Bewertung von
Literatur und seit es Theorie gibt, gibt es auch Wertungstheorien.
Zunehmend haben diese Theorien begonnen, sich auch mit der Beziehung
zwischen Autor (oder Werk, Text) zu Gesellschaft (Kollektiv, Gruppe...)
zu beschäftigen. Der vom Terrorsystem Stalins verfolgte russische
Literaturwissenschaftler Michail Bachtin begann bereits Ende der
1920-er Jahre einen Ansatz zu entwickeln, der die Literatur in
Opposition zur herrschenden Ordnung stellte, ihr die Rolle der Kritik
und Verbesserung dieser Ordnung zuwies. Literatur ermöglichte für
Bachtin "die Schaffung der offenen Struktur des großen Dialogs"
(Bachtin 1969, 84). Literatur war somit Medium einer kritischen
(Gegen-) Öffentlichkeit. Dass
die Popularisierung von Kunst und Literatur auch Affirmation statt
Subversion bedeuten konnte, thematisierte z.B. die Kritische Theorie,
vor allem Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der
Aufklärung. Die sich an die herrschenden Verhältnisse anpassende Kunst
oder Literatur ist Unterhaltungsware und dient dem "totalen Betrug der
Massen" (Horkheimer/Adorno 2004, 49). Einerseits
gilt also: In Kunst und Literatur "herrschen besondere Gesetze"
(Horkheimer/Adorno 2004, 25). Andererseits stellen Horkheimer / Adorno
bereits Jahrzehnte vor Bourdieu fest, dass es die Ökonomie ist, die
auch die Kunst durchdringt: "Die reinen Kunstwerke, die den
Warencharakter der Gesellschaft allein dadurch schon verneinen, daß sie
ihrem eigenen Gesetz folgen, waren immer zugleich auch Waren […]"
(Horkheimer/Adorno 2004, 166). Die
skizzierten Überlegungen zur literarischen Wertung im
gesellschaftlichen Prozess sind zugleich Konzepte der Wirkung von
Literatur, sie sind ebenso in der Konkurrenz zu anderen Massenmedien zu
sehen wie – unter Abzug medienspezifischer Besonderheiten – auf diese
übertragbar. Das Unbehagen an einer Wertungspraxis, die sich nicht für
den Kontext interessiert, in dem Literatur entsteht und rezipiert wird,
hat bereits 1952 Wolfgang Kayser artikuliert: "Die Wertung liegt in der
Interpretation beschlossen. Damit müssen wir einer Frage Antwort
stehen: wo bleibt die Rücksicht auf die historischen Bindungen, in
denen das Kunstwerk wie jedes menschliche Erzeugnis steht?" (Kayser
1980, 156). Die
umfangreichsten theoretischen Konzepte, was Literatur ist und welche
Wertmaßstäbe für sie gelten, haben Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu
vorgelegt, ihre Studien sind zugleich auch Bestandteil einer
umfassenderen Gesellschaftstheorie. Luhmann betont den Prozesscharakter
von Gesellschaft, dessen Grundlage Kommunikation bildet. Bereits
Wahrnehmung ist für Luhmann "vom Gehirn konstruiert" (Luhmann 1997, 16)
und Kunst verdoppelt diesen Konstruktionsprozess mit den ihr eigenen
Regeln. Kunst und Literatur sind "ein funktionales Äquivalent zur
Sprache" (Luhmann 1997, 36), sie folgen aber anderen Regeln als die
weitgehend konventionalisierte Alltagskommunikation. Man kann "an
Kunstwerken das Beobachten lernen" (Luhmann 1997, 90). Beim Betrachten
von Kunstwerken gilt es daher, "Was-Fragen durch Wie-Fragen zu
ersetzen" (Luhmann 1997, 147). Kunstwerke besitzen eine
"unwahrscheinliche Evidenz" (Luhmann 1997, 191). Aber der Kunst-Griff
kann misslingen und zu einem "Verlust des Interesses" führen (Luhmann
1997, 208). "Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke – nur eben
mißglückte" (Luhmann 1997, 316). Davon zu unterscheiden ist die
"Massenproduktion" von "Kitsch" (Luhmann 1997, 300), der sich eben
dadurch auszeichnet, dass er die von Luhmann betonten Eigenschaften der
Neuheit, Komplexität und Selbstreferenz nicht hat. Gerade der
Unterschied zur Alltagskommunikation ist es, den Kunst und Literatur
produktiv nutzen. Daraus folgt: "Eine Zukunft kann es, auch für Kunst,
nur geben, wenn für Differenz optiert wird […]" (Luhmann 1997, 505). Damit
Kunst, die von der Neuheit lebt, überhaupt als solche erkannt werden
kann, gibt es "[…] einen Kunstbetrieb. Das Kunstsystem stellt
Einrichtungen zur Verfügung, in denen es nicht unwahrscheinlich ist,
Kunst anzutreffen – etwa Museen, Galerien, Ausstellungen,
Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit
Kunstexperten, Kritikern usw." (Luhmann 1997, 249). Die Einzigartigkeit
der Kunstwerke hat hier handfeste ökonomische Konsequenzen. Anders als
im System Wirtschaft kann im System Kunst "Knappheit" genutzt werden,
"um Preise sicherzustellen" (Luhmann 1997, 265). Die
zweite große Literaturbetriebs- und Wertungstheorie stammt von Pierre
Bourdieu. Er unterteilt die Gesellschaft in Felder, die nach eigenen
Regeln, nach spezifischen Codierungen funktionieren und sich im Zuge
der Ausdifferenzierung der Gesellschaft gebildet haben, so dass es zu
einer "Produktion und Zirkulation kultureller Hervorbringungen" kommen
konnte (Bourdieu 2001, 427) – darin besteht die große Ähnlichkeit zu
Luhmanns Systemtheorie. Die Gesellschaft resultiert für Bourdieu aus
Verteilungskämpfen um verschiedene Kapitale, hier unterscheidet er
neben ökonomischem Kapital symbolisches (etwa Aufmerksamkeit) und
kulturelles Kapital (etwa Ansehen oder Expertenstatus) bzw.
ökonomische, symbolische und kulturelle Profite (vgl. Bourdieu 2001,
190, 227ff.). Das "Feld der kulturellen Produktion" ist auch ein
"Machtfeld" (Bourdieu 2001, 203). Den Begriff der Macht und sein
Verständnis dürfte Bourdieu weitgehend von Michel Foucault übernommen
haben. Der "Kampf" um "Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes",
also nicht zuletzt um die eigene Position, generiert und
vereinheitlicht das Feld (Bourdieu 2001, 368), es ist Motor seiner
Entstehung und Entwicklung. Als
Prinzip guter Literatur gilt zunächst Verknappung des Angebots –
statt des für andere Waren üblichen Ziels der Massenproduktion (vgl.
Bourdieu 2001, 134ff., 198ff.). Die "Erfindung einer reinen Ästhetik"
(Bourdieu 2001, 174) ermöglicht, dass nur der Autor selbst und dann
einige ExpertInnen den besonderen Wert eines Texts erkennen können,
wobei diese Erkenntnis freilich in einem Akt der Zuschreibung von Wert
geschieht – nichts hat einen Wert an sich, er entsteht im
Rezeptionsprozess. "Damit ist der Gegensatz total zwischen den
Bestsellern ohne Dauer und den Klassikern, Bestsellern in
Langzeitperspektive, die ihre Kanonisierung, also ihren erweiterten und
dauerhaften Markt, dem Bildungssystem verdanken" (Bourdieu 2001,
237f.). Die skizzierte
Wertungspraxis hat sich historisch entwickelt, sie könnte auch ganz
anders aussehen sie und kann sich weiter verändern. Bourdieu etwa
vermutet (nicht als einziger), dass "die Logik der kommerziellen
Produktion sich innerhalb der avantgardistischen Produktion (im Falle
der Literatur über die vom Buchmarkt ausgehenden Zwänge) immer stärker
durchsetzt" (Bourdieu 2001, 531).
Ziele
Die skizzierten Zusammenhänge gilt es weiter zu
untersuchen: An welche Modelle der literarischen Wertung wird heute im
Lese- und Wertungsverhalten angeschlossen? Wie wird Literatur zur
Identitätsbildung genutzt, etwa von jenen, die an Bildungsdiskurse
anschließen wollen, oder solchen, die über die Vertrautheit mit
spezifischen Genres wie Fantasy eine spezifische Gruppenidentität
generieren? Welche Argumente werden für oder gegen die Lektüre
bestimmter Texte oder Genres vorgebracht? Welche fiktionalen Texte
werden also aus welchen Gründen von welchen Publika gelesen und ggf.
kanonisiert? Welche Rolle spielen dabei die jeweiligen ökonomischen und
institutionellen Interessen? Insbesondere
die Instanzen Literaturkritik, Schule, Universität und Bibliothek
sollen in den Blick genommen werden. Gibt es weiterhin Rituale im
Literaturbetrieb und wenn ja, wie sehen sie aus? Welche Kriterien
gelten für Auswahlentscheidungen und wie haben sich diese Kriterien
verändert? Neben der Recherche von aussagekräftigem Material in den
Massenmedien (z.B. Literaturkritiken, Besten- und Bestsellerlisten)
sind Möglichkeiten der empirischen Erhebung von Daten etwa die
teilnehmende Beobachtung, qualifizierte Interviews und Fragebögen. Beispielhaft
sei abschließend auf die Bewertung und Kanonisierung von Literatur im
schulischen Kontext hingewiesen. Die Frage nach dem schulischen Kanon
bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Literatur
in Erziehung und Bildung, die ohnehin eine Geschichte des Normativen
ist, des Sollen und Dürfen. Tradierte Bildungsinhalte,
(historische) Konzeption von (aktueller literarischer) Bildung,
Auffassungen von (jugendlichen) Leser/innen und ihrer (zu erwerbenden)
literarischen Kompetenz sowie nicht zuletzt die Tatsache, dass die
schulische Begegnung mit Literatur vielleicht die einzige bleibt, geben
der Wertung und Auswahlentscheidung der Lehrenden noch eine zusätzliche
Bedeutung. Auf welcher Grundlage treffen Lehrende die Entscheidung für
oder gegen ein literarisches Werk, insbesondere ein
gegenwartsliterarisches – wobei zu bedenken ist, dass sich
Gegenwartsliteratur durch einen geringeren Kanonisierungsgrad
auszeichnet? Welche Argumente werden für oder gegen Texte vorgebracht,
wie werden Auswahlentscheidungen argumentativ abgesichert? In welcher
Weise sind Lehrende selber Lesende von Gegenwartsliteratur,
Teilnehmende am öffentlichen, am massenmedialen Wertungsdiskurs, welche
Medien frequentieren sie, wie informieren sie sich und wie reflektieren
sie die Mechanismen der Wertung von Literatur? Wie wirkt sich die
Auswahl von Texten auf die Identitätsbildung von Kindern und
Jugendlichen aus?
Literatur
- S. Neuhaus, Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002.
- S. Neuhaus, Literatur und nationale Einheit in Deutschland. Tübingen/Basel 2002.
- S. Neuhaus, Literaturvermittlung. Konstanz 2009.
- U. Schaffers und G. Boesken (Hg.), Lektüren ´bilden`: Lesen – Bildung – Vermittlung. Festschrift für Erich Schön, Münster 2013.
- U.
Schaffers, "Geschehnisse, die für alle Zeiten der Menschheit verborgen
bleiben sollten" – und wie davon erzählt wird, in: M. Braun (Hg.): Tabu
und Tabubruch in Literatur und Film, Würzburg 2007, S. 21-45.
- U.
Schaffers, Fremde – Literatur – Verstehen? Fragestellungen einer
interkulturellen Hermeneutik, in: F. Jannidis e.a. (Hgg.): Regeln der
Bedeutung. Berlin/New York 2003, S.349-379.
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