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| Prof. Dr. Sabine Diao-Klaeger, Prof.
Dr. Jan Georg Schneider
Sprachwissenschaft
und Öffentlichkeit
Normen
des Sprachgebrauchs werden von Sprachbenutzern und öffentlich
auftretenden Sprachkritikern unter anderen Prämissen und mit anderen
Zielsetzungen thematisiert als innerhalb der Sprachwissenschaft. Wer
in beruflichen Kontexten (Bewerbungsschreiben, Präsentation,
Internetauftritt, etc.) oder privaten (Anzeigenschaltung,
Kondolenzschreiben, Festrede, etc.) vor ungewohnten kommunikativen
Aufgaben steht, sucht – oft in Ratgeberbüchern – klare
Orientierung und eindeutige Hilfestellung. Ratgeber und populäre
Sprachkritiker versuchen diese Nachfrage zu bedienen und neigen dabei
häufig zu wissenschaftlich nicht haltbaren Vereinfachungen und
Verallgemeinerungen. In Frankreich existiert mit der Académie
Française gar eine öffentliche Institution, die unter anderem mit
ihrer Rubrik „dire, ne pas dire“ beratend und letztlich
normierend in den Sprachgebrauch eingreift. Während
Sprachwissenschaftler im deutschen Raum in aller Regel aus
theoretischen und methodischen Gründen keine normativen Aussagen
über Sprache treffen wollen, sondern sich für den tatsächlichen
Gebrauch und die daraus erst ableitbaren Regularitäten des Sprechens
oder Schreibens interessieren, beziehen französische Linguisten
tendenziell eher auch eine normorientierte Sicht in ihre Studien ein.
Es
herrscht landläufig noch immer die Meinung vor, dass es eine
Sprache mit einer
gültigen Norm gebe oder wenigstens geben sollte. Diese Sichtweise
ignoriert jedoch die vielfältig medial, kulturell oder
domänenspezifisch
differenzierten Ordnungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Zudem
muss das Französische, in geringerem Maße auch das Deutsche, als
plurizentrische Sprache angesehen werden, d. h. man kann
grundsätzlich von mehreren Standardvarietäten ausgehen, die sich
wiederum diasystematisch auffächern. So unterscheidet man für die
afrikanischen Varietäten des Französischen die endogenen von den
exogenen Normen; die endogene Norm bezieht sich in der Regel
ausschließlich auf gesprochensprachliche Idiome, die wiederum wenig
beachtet und nur ansatzweise beschrieben wurden und werden. Dies
hängt damit zusammen, dass es in unserer Kultur eine lange Tradition
der Privilegierung von Schriftsprache gibt, die von der
Gesprochene-Sprache-Forschung kritisiert und verschiedentlich als
‚Skriptizismus‘ bezeichnet wurde. Die grammatischen
Beschreibungskategorien, an denen sich nicht nur der
durchschnittliche Sprachnutzer, sondern auch professionell mit
Sprache umgehende Berufsgruppen wie Lehrer und Journalisten
orientieren, sind in hohem Maße schriftsprachlich geprägt. Hieraus
resultieren problematische Beurteilungen mündlicher Rede, die –
nach dem Motto: „Sprich, wie Du schreibst!“ – häufig von
skriptizistischen Vorurteilen geleitet sind.
Theoretischer
Hintergrund Sprache
existiert in unterschiedlichen medialen Formen mit je spezifischen
Spielräumen für die Zeichenprozessierung: Sprachliche Äußerungen
sind immer gesprochen, geschrieben, gebärdet. Medialität ist
demnach nicht erst eine historische Errungenschaft, die durch die
Entwicklung technischer Medien (z.B. Buchdruck, Computer) entsteht,
vielmehr bewegen wir Menschen uns beim Kommunizieren immer schon in
verschiedenen Medien und Zeichensystemen. In der Regel nutzen wir
dabei nicht nur ein einzelnes Medium oder Zeichensystem, sondern wir
kombinieren unterschiedliche Medien und Zeichensysteme miteinander
(z.B. Laute und Gesten; z.B. Schrift und Bild). Multimedialität ist
daher der Normalfall, nicht die Ausnahme des Kommunizierens.
Geht
man von diesen medialitätstheoretischen Prämissen aus, dann besteht
eine wissenschaftlich fundierte Alternative zur populären normativen
Sprachkritik darin, den (mündlichen, schriftlichen, gebärdeten)
Sprachzeichengebrauch in konkreten „kommunikativen Praktiken“
(Fiehler et al. 2004) möglichst präzise zu beschreiben und daraus
gegebenenfalls empirisch fundierte Empfehlungen abzuleiten, wie dies
z.B. in gesprächsanalytisch geprägten Kommunikationstrainings oder
in der linguistisch geschulten Sprachberatung zum Teil schon
geschieht. Kommunikative Praktiken – im Sinne Wittgensteins kann
man hier auch von „Sprachspielen“ sprechen – weisen immer
bestimmte kulturell erworbene Spielregeln auf, die die Akteure
normativ binden: Verstöße gegen diese Spielregeln können auf
unterschiedliche Weise implizit oder auch explizit sanktioniert
werden. In bestimmten Situationen und Domänen z.B. wird
standardnahes, nicht dialektales oder umgangssprachliches Sprechen
(sogenanntes ,Hochdeutsch‘ bzw. français standard) erwartet; in
bestimmten Gruppen von Jugendlichen dagegen sind unter Umständen
ganz andere Sprechweisen ,angesagt‘. In den frankophonen Gebieten
außerhalb Frankreichs sehen die Sprecher selbst ihr Französisch
häufig als defizitär an (so genannte „insécurité
linguistique“), verwenden diese endogene Gebrauchsnorm als
Vernakular, „schämen“ sich dieser ihrer Sprache jedoch, wenn sie
mit hexagonalen Sprechern interagieren. Eine sprachwissenschaftliche
und -philosophische Reflexion der Begriffe ,Regel‘ und ,Norm‘ vor
diesem Hintergrund stellt innerhalb der Sprachwissenschaft noch ein
weitgehendes Desiderat dar. Dies hat auch Konsequenzen für die
Modellierung von ,Standardsprache‘: Standardvarietäten sind dann
nicht als „förmlich institutionalisierte Vorschriften“ (Ammon
2005:32), sondern als Gebrauchsnormen der „alltäglichen
Sprechsprache“ (Durrell 2006:114, vgl. auch von Polenz 1999:338) zu
begreifen.
Wenn
man Medien als Verfahren der Zeichenprozessierung begreift, dann
eröffnen sie stets bestimmte Spielräume des Gebrauchs: Beim
schriftlichen Kommunizieren in den sogenannten Neuen Medien
entwickeln Menschen äußerst kreative Wege, um ohne Mimik und Gestik
emotionale, dialogische und interaktionsorientierte Texte zu
produzieren; beim klassischen Telefonieren haben sich typische
kommunikative Praktiken für das Sprechen ohne Sichtkontakt
herausgebildet (Rückmeldesignale, Vermeiden von Pausen, „Bist du
noch dran?“); auf Werbeplakaten lässt sich gesprochene Sprache nur
in schriftlich transkribierter Form darstellen – dafür aber
kombiniert mit (typo-)grafischen Spielereien, Bildern, etc.
Die
individuelle Sprach- und Medienkompetenz besteht vor allem darin, die
durch das jeweilige Medium bereitgestellten Spielräume im Rahmen der
jeweiligen kommunikativen Praktik und ihrer Anforderungen möglichst
gut zu nutzen. Hieran sieht man, dass Medien den individuellen
Gebrauch nicht determinieren, sondern ihm eine Kontur geben. Ein
kompetenter Sprecher und Schreiber ist zunächst einer, der die
Regeln des je aktuellen Sprachspiels beherrscht – eine sehr hohe
Sprachkompetenz äußerst sich aber auch darin, dass Akteure die
Regeln gezielt übertreten und vielleicht sogar verändern, neue
Sprachspiele etablieren und bestehende kritisch reflektieren. Hier
liegen große Herausforderungen für die Sprachdidaktik und für eine
linguistisch fundierte Sprachkritik.
Ziele
Während
die öffentliche Sprachkritik eine bestimmte Form schriftlicher
Standardsprache als einzige Norm verabsolutiert, neigen viele
Sprachwissenschaftler dazu, sprachliche Varianten insgesamt als
gleichwertig zu betrachten, wodurch einem konstruktiven Austausch,
der auch normativ relevante Stellungnahmen und Festlegungen
beinhaltet, jede Grundlage entzogen wird. In ihrem Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit und der damit einhergehenden
‚Wertungsabstinenz‘ übersieht die Linguistik allzu häufig,
dass die berechtigte Weigerung, allgemeingültige Aussagen über
‚das richtige Deutsch‘ bzw. ,das richtige Französisch‘ zu
machen, keineswegs im Gegensatz zu der Notwendigkeit steht, das
Normativitätsproblem als Ganzes sowie auch die jeweils geltenden
Normen sprachwissenschaftlich zu reflektieren. Nicht nur
konservative Sprachpfleger, sondern weite Teile der Öffentlichkeit
– z.B. auch Journalisten und Deutsch- bzw. Französischlehrer –
fühlen sich von einer ausschließlich deskriptiv orientierten
Sprachwissenschaft im Stich gelassen. Die Linguistik sollte dies als
eine Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit begreifen, ohne
allerdings ihre Wissenschaftlichkeit aufzugeben und nun ihrerseits
einem undifferenzierten Richtig-Falsch-Schema das Wort zu reden. Die
Lösung liegt in einer präzisen Beschreibung differenter
kommunikativer Praktiken mit ihren medialen Spielräumen: In einem
komplexen Feld von Lebensordnungen wird dadurch die Ungleichheit
sprachlicher Varianten in Bezug auf ihre unterschiedlichen Funktionen
und Domänenzugehörigkeiten betont. Damit können viele
sprachkritische Argumentationen entkräftet und zugleich dem
berechtigen Wunsch von Sprachbenutzern nachgekommen werden,
fachwissenschaftlich fundierte Orientierung zu bekommen anstelle
eines ausweichenden „Sprechen Sie doch ruhig, wie Sie wollen!“. Dementsprechend
geht es in dem geplanten Teilprojekt „Sprachnormen in
Fachwissenschaft und Öffentlichkeit“ darum, aktuelle öffentliche
Diskurse über Sprachrichtigkeit und ‚Sprachverfall‘ aufzugreifen
und ihnen linguistische, korpusgestützte Analysen
gegenüberzustellen. Besonders interessant erscheint hier neben der
jeweiligen Analyse ein Gegenüberstellen und Vergleichen der
Ergebnisse zum Deutschen und zum Französischen. Die Linguistik kann
und sollte der präskriptiven, öffentlich wirksamen Sprachkritik,
wie sie in Deutschland z.B. durch populäre Autoren wie Bastian Sick
und sprachpflegerische Vereine, in Frankreich vor allem durch die
Académie Française repräsentiert wird, eine gebrauchsorientierte
Beschreibung von Sprache (z.B. gesprochensprachlicher Konstruktionen)
entgegenhalten, um ihr nicht das Feld der Didaktik und der
‚Sprachrichtigkeit‘ zu überlassen. Hierfür ist es notwendig,
die Strukturen und Gebrauchsnormen unterschiedlicher medialer Formen
– vor allem der gesprochenen (Standard-)Sprache im Unterschied zum
Schriftstandard – genauer herauszuarbeiten, aber auch deren
Vermischungen und Gebrauchskontexte zu beschreiben (z.B. Hypertexte,
Sprache-Bild-Kombinationen, Mündlichkeit in unterschiedlichen
Domänen, …). Forschungsbedarf besteht insbesondere im Bereich der
Grammatikschreibung: Beschreibung der grammatischen Strukturen
gesprochener im Gegensatz zu geschriebener Sprache; Erweiterung des
Grammatikbegriffs auf redebegleitende Gesten (Mündlichkeit) oder
typografische und bildliche Gestaltungsmittel (Schriftlichkeit);
funktionale Beschreibung von Varianten (z.B. Dialekt- und andere
Nonstandard-Formen als Stilmittel, orthografische Varianten, etc.).
Literatur
der Antragsteller zum Thema
- Diao-Klaeger,
Sabine / Thörle, Britta (Hg.) (i.V.):
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dans les langues romanes. Tübingen:
Stauffenburg.
- Diao-Klaeger,
Sabine (i.Dr.): Sprache und Norm im frankophonen Afrika. Wandel im
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- Baldauf-Quiliatre,
Heike / Bruxelles, Sylvie / Diao-Klaeger, Sabine et al. (i.Dr.):
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- Klaeger,
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(Hg.): Black Paris. Kunst und Geschichte einer schwarzen Diaspora.
Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 131-137.
- Schneider,
Jan Georg (2013): „die war letztes mal (-) war die länger“ –
Überlegungen zur linguistischen Kategorie 'gesprochenes
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Sandro Moraldo (Hg.): Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht.
Grundlagen – Ansätze – Praxis. Heidelberg: Winter (Reihe
„Sprache – Literatur und Geschichte“), 83-111.
- Schneider,
Jan Georg / Georg Albert (2013): Medialität
und Standardsprache - oder: Warum die Rede von einem gesprochenen
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Stauffenburg, 49-60.
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und Öffentlichkeit. Sprachwissenschaftliche Potenziale zwischen
Empirie und Norm. Berlin / Boston: de Gruyter (= Reihe Germanistische
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- Schneider,
Jan Georg (2011): Hat die gesprochene Sprache eine eigene Grammatik?
Grundsätzliche Überlegungen zum Status gesprochensprachlicher
Konstruktionen und zur Kategorie ‚gesprochenes Standarddeutsch‘.
In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 39, 165-187.
- Schneider,
Jan Georg (2008): Spielräume der Medialität. Linguistische
Gegenstandskonstitution aus medientheoretischer und pragmatischer
Perspektive. Berlin / New York: de Gruyter (= Linguistik – Impulse
& Tendenzen 29).
- Schneider,
Jan Georg (2005): Zur Normativität von Sprachregeln. Ist Sprechen
‚regelgeleitetes‘ Handeln? In: Zeitschrift für germanistische
Linguistik 33.1, 1-24.
© 2014 Universität Koblenz-Landau
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