| Prof. Dr. Clemens Albrecht
Thema
Die
Differenz zwischen sozialer Vorgegebenheit und normativer Geltung
kann sich nur in Gesellschaften entfalten, in denen soziale
Strukturen und kulturelle Bedeutungsmuster dauerhaft
auseinandergetreten sind. Struktur und Kultur lassen sich hier nicht
mehr aufeinander abbilden, Wissensinhalte (etwa Normen) erfahren auch
außerhalb ihrer eigentlichen Trägergruppen Anerkennung. So wie
Herrschaft auf den Legitimitätsglauben derer angewiesen ist, die ihr
unterliegen, so entfalten hier bestimmte kulturelle Inhalte eine
normative Kraft auf Anerkennung auch gegenüber denjenigen, die über
diese Inhalte nicht verfügen.
Für
diesen Tatbestand ist vor einiger Zeit der Begriff der
„repräsentativen Kultur“ entwickelt worden. [Tenbruck, Friedrich
H., Repräsentative Kultur, in: H. Haferkamp (Hg.), Sozialstruktur
und Kultur, Frankfurt/M 1990, S. 20-53.] Er geht davon aus, dass sich
in stratifizierten Gesellschaften („Hochkulturen“) in bestimmten
Segmenten (meistens, aber nicht immer: an der Spitze) kulturelle
Formen ausbilden, die Geltung in der gesamten Sozialpyramide
beanspruchen und auch jenseits unmittelbarer Machttechniken als Teil
des Legitimitätsglauben ihren normativen Anspruch durchsetzen
können, etwa über Staatsriten (Sakralkönigtum etc.).
Es
gehört zu den großen Leistungen der monotheistischen Religionen,
die repräsentative Kultur von einzelnen Rollenträgern (Schamanen,
Priester) und von der Herrschaft zu lösen, wodurch die Dynamisierung
durch religiöse Erneuerungsbewegungen überhaupt erst möglich
wurde, die ihre Geltungsansprüche formulierten und über den engen
Kreis ihrer Anhänger auch durchsetzen konnten (Ordensgründungen,
Reformationen, heute in der Türkei die Gülen-Bewegung). In der
Neuzeit entfalteten die unterschiedlichen nationalen Klassiken ihre
normativen Ansprüche weit über die Trägergruppen der Literaten
hinaus und formten die moderne bürgerliche Kultur in ihren
Grundlagen, indem sie die Kriterien zum sozialen Aufstieg von der
sozialen Herkunft lösten und auf einen kulturell erlernbaren Bereich
übertrugen (Kanon). Erst damit entsteht „Aufstieg durch Bildung“
als Differenzraum zwischen Struktur und Kultur. [Vgl. Albrecht,
Clemens, Massenkultur, Kanon und soziale Mobilität. Eine kleine
Ideologiekritik des Konstruktivismus, in: J. Bilstein / J. Ecarius
(Hg.), Standardisierung – Kanonisierung.
Erziehungswissenschaftliche Reflexionen, Wiesbaden 2009, S. 77-93]
Aber auch dann, wenn die Normativitätsansprüche spezifischer
Kulturen dekonstruiert sind und einer pluralistischen Verteilung
weichen, [Vgl. dazu Albrecht, Clemens, Die Halbwertszeit der Kultur.
Kultursoziologie zwischen Geistes- und Kulturwissenschaft, in:
Sociologia Internationalis, 47, H.1, 2009, S. 39-55.] bilden sie sich
als stete Neuerungsbewegungen aus unterschiedlichen Trägergruppen
heraus, von den Moden der Intellektuellen bis hin zum Kommunikations-
und Ausdrucksstil der Subkulturen: Kein deutscher Mittelschichtjunge,
der nicht den Türkenslang nachahmen kann, wenn er cool wirken
möchte. Der Normativitätsanspruch pluralisiert sich lediglich,
Struktur und Kultur bleiben jedoch interferent.
Aufgabe
dieses Teilprojektes ist es, den Begriff der „repräsentativen
Kultur“ zu entfalten und aus universalgeschichtlicher Perspektive
eine Typologie seiner Formen zu entwickeln, die dann wiederum in
andere Teilprojekte zurückstrahlen kann: in die Kanondebatte, das
Ritualverhalten (stellvertretender Vollzug einer Handlung als Form
repräsentativer Kultur, [Vgl. Weiß, Johannes, Handeln und handeln
lassen. Über Stellvertretung, Opladen 1998.]) die Pluralisierung als
Modell konkurrierender Kulturformen bis hin zu Sprachnormen in der
Wissenschaft. Insofern sieht sich dieses Teilprojekt in der Funktion,
die begrifflichen Klammern des Gesamtvorhabens zu präzisieren.
Literatur
- Albrecht,
Clemens, Zivilisation und Gesellschaft. Bürgerliche Kultur in
Frankreich, München 1995.
- Albrecht,
Clemens, Massenkultur, Kanon und soziale Mobilität. Eine kleine
Ideologiekritik des Konstruktivismus, in: J. Bilstein / J. Ecarius
(Hg.), Standardisierung – Kanonisierung.
Erziehungswissenschaftliche Reflexionen, Wiesbaden 2009, S. 77-93.
- Albrecht,
Clemens, Die Halbwertszeit der Kultur. Kultursoziologie zwischen
Geistes- und Kulturwissenschaft, in: Sociologia Internationalis, 47,
H.1, 2009, S. 39-55.
- Albrecht,
Clemens, Die Substantialität bürgerlicher Kultur, in: H. Bude / J.
Fischer / B. Kauffmann (Hg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum,
München 2010, S. 131-144.
- Albrecht,
Clemens, „Soziale Wirklichkeit“. Helmut Schelsky und die Tragödie
einer regulativen Idee, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, 7, H.
2, 2013, S. 53-62.
- Moebius,
Stephan / Albrecht, Clemens (Hg.), Kultur-Soziologie. Klassische
Texte der neueren deutschen Kultursoziologie, Wiesbaden 2014.
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